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Auswertung eines Praktikums
bei den Thomanern in Leipzig
vom 9.9.1996 - 10.10.1996

Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Fachbereich Musik
Praktikumsbegleiter: Professor Martin Wolfgang Stroh

Monika Labusch

 

Einleitung

Zum Studium der angewandten Musikwissenschaft gehört das Absolvieren eines Praktikums in einem Musikbetrieb. In diesem Fall geht es um ein Praktikum bei den Thomanern in Leipzig. Die besondere Organisationsstruktur dieser Einrichtung, auf die in meinem Bericht noch näher eingegangen werden soll, brachte es mit sich, dass die Ausübung des Praktikums nicht im Übernehmen von einigen Pflichten bestand, sondern im Beobachten, Verstehen und Erforschen.

Der Thomaskantor hatte auf meine Bitte, mir einen Praktikumsplatz beim Thomanerchor zu gewähren, zurück geschrieben, dass er das gerne tue, aber es könne sich niemand um mich kümmern. Dies traf in der Tat zu. Ich musste auf die Menschen zugehen und sie um Auskunft bitten. Ein Schreibplatz war mir vom Alumnatsleiter im Keller, in dem sich auch einige Überäume befinden, zur Verfügung gestellt worden. Nachdem mich der Alumnatsleiter mit allen Mitarbeitern bekannt gemacht und der Thomaskantor mich dem Chor vorgestellt hatte, musste ich mir überlegen, wie ich vorgehen könne.
Ein glücklicher Zufall ließ mich ein Gespräch mit einem Primaner, dem Kantorfamulus, führen, aus dem ich nach kurzer Zeit feststellen musste, dass ich in eine sehr komplizierte Organisation geraten war. Nicht nur die Einzigartigkeit der Struktur des Thomasalumnates stellte mich vor die Schwierigkeit, Fragen zu stellen, die nicht auf Unverständnis stießen. Auch die Unkenntnis der Schulsituation in den neuen Bundesländern machte die Sache kompliziert. Ganz zu schweigen davon, dass ich als Frau in eine Männergesellschaft geraten war. Ich hatte es also mit drei unterschiedlichen Arten von Schwierigkeiten zu tun, ich war nicht auf die Erziehungssituation in Chor und Alumnat gefasst, ich musste mich über die politische Situation informieren und ich musste meine weibliche Betrachtungsweise als eine solche erkennen. Nun hatte ich keine Pflichten und also Zeit genug, mich durchzufragen, um sinnvolles Beobachten vorzunehmen.
Wenn man es mit einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen zu tun hat, und das sind die Thomaner ja auch, nicht nur Chorsänger, spielt auch das Gefühl eine Rolle, besonders, wenn es darin besteht, dass man unter dem Eindruck steht, durch ein umgedrehtes Fernglas in die Realität längst vergangen geglaubter Erziehungsmethoden zu blicken. Dieser Eindruck verstärkte sich noch beim Lesen von älteren Berichten über den Thomaschor. Ich werde deshalb meinen Bericht ständig in Beziehung zu diesen älteren setzen, um zu zeigen, wie tradierte Strukturen des Thomanerchores die unterschiedlichsten politischen Systeme überlebt haben.

 

Bericht

 „Der Leipziger Thomanerchor ist ein gemischter Chor, der von 60 Gymnasiasten aller Klassenstufen gebildet wird. Die Schüler werden im Alumnat der Thomasschule erzogen und besuchen wie jeder freie Schüler das Gymnasium bis zur Universitätsreife. Durch das enge Zusammenleben im Internat, die Vereinigung von humanistischer und musikalischer Bildung und durch lange Überlieferung wird die musikalische Kultur erzeugt, auf welcher der Ruhm des Chores beruht.“ (1)

Mit diesen Worten beginnt ein Inspektor des Thomasalumnates die Beschreibung der Organisation des Thomanerchores im Jahre 1920. Wenn wir die Zahl 60 durch die Zahl 96 ersetzen und hinzufügen, dass der Thomanerchor nicht mehr nur aus Gymnasiasten, also Schülern der Thomasschule besteht, sondern auch aus Viertklässlern der Grundschule, haben wir die beiden ersten Sätze auf den aktuellen Stand gebracht. Es ist vielleicht nicht für jeden deutlich, dass zwar jeder Sänger des Thomanerchores – außer den Viertklässlern – ein Schüler der Thomasschule ist, aber nicht jeder Schüler der Thomasschule ist auch ein Mitglied des Chores. Wenn ich von den Thomanern spreche, dann meine ich immer die Chorsänger.

„Die Leitung und Verwaltung des Alumnats hat der Rektor der Thomasschule als Alumnatsvorsteher inne. Er führt die Geschäfte des Chores und erteilt gegebenenfalls bei besonderen Gesangsaufführungen des Chores oder eines Teiles desselben die Genehmigung, soweit nicht bei wichtigen Anlässen die Genehmigung des Stadtrates einzuholen ist. Der Rektor, dem drei Inspektoren beigegeben sind, leitet, im ersten Stock wohnend, den Internatsbetrieb und übt die Aufsicht über die Hauswirtschaft aus, die vom Hausmann und seiner Frau (die gleichzeitig Krankenpflegerin ist) und zwei Hausmädchen besorgt wird. Ebenso ist dem Rektor die Küchenwirtschaft unterstellt, die von einer Wirtschafterin und drei Hausmädchen geführt wird. Alle Rechnungen, die in dem umfänglichen Betriebe einlaufen, werden dem Rektor zur Bestätigung vorgelegt und dann an die Schulkasse zur Begleichung weitergegeben. Ein bestimmter Verpflegungssatz ist nicht vorgesehen.“

Heutzutage ist der Rektor der Thomasschule nicht mehr gleichzeitig Alumnatsleiter. Er hat allerdings organisatorisch mit den Alumnen zu tun, weil diese eigene Thomanerklassen innerhalb der Thomasschule bilden. Diese so genannten Thomanerklassen wurden ab 1972 eingeführt. Begründet wurde es seinerzeit damit, dass es für die Thomaner schwierig sei, den durch Konzertreisen verursachten Unterrichtsausfall innerhalb einer gemischten Klasse nachzuarbeiten. Gemischt bedeutet, dass sowohl Jungen und Mädchen als auch Thomaner und Nicht-Thomaner in einer Klasse sind. Der Verbindungsmann zwischen Schule und Alumnat ist der Alumnatsleiter, der gleichzeitig Lehrer an der Thomasschule ist. Nach wie vor sind im Alumnat außer ihm noch drei Inspektoren tätig, die alternierend je eine Woche im Alumnat schlafen. Alle drei sind gleichzeitig Lehrer an der Thomasschule. Der Alumnatsleiter übt in der oben beschriebenen Weise die Aufsicht über die Wirtschaft aus, wohnt aber nicht mehr im Alumnat. Statt der Frau des Hausmeisters kümmert sich eine Krankenschwester um die Schüler, die Hauswirtschafterin ist momentan ein Koch, die Anzahl der Helferinnen ist gleich geblieben, obwohl sich die Schülerzahl um 30% erhöht hat. Der Hausmeister wohnt im Alumnat.
Die Schüler machen und beziehen selbst ihre Betten, reinigen die Flure, Waschräume und Toiletten und räumen nach dem Essen die Tische ab. Außerdem werden Dachboden, Keller und Außenanlage regelmäßig während der so genannten Strafstunden von Schülern, die gegen die Hausordnung verstoßen haben, gereinigt. Um die Rechnungen kümmert sich ein eigens dafür angestellter Verwaltungsbeamter, der sie an die Stadt weiterleitet. Nach wie vor brauchen die Alumnen kein Kost- und Wohngeld zu zahlen. Die früheren Wohnräume des Rektors sind jetzt Musikunterrichts- und Überäume.
Das Alumnat der Thomasschule ist 115 Jahre alt und befindet sich in der Hillerstraße 8 in Leipzig, etwa zwölf Gehminuten von der Thomaskirche entfernt. Im Erdgeschoss befinden sich der Probensaal, das Arbeitszimmer des Kantors, das Büro der Präfekten, das allgemeine Büro, das Büro des Verwaltungsleiters, das Zimmer des Alumnatsleiters, der Esssaal mit Küche und die Wohnung des Hausmeisters, der auch einen eigenen Garten hat. Neben der Wohnung des Hausmeisters ist ein Raum für die Konzerttracht der Thomaner, die von der Frau des Hausmeisters gepflegt wird. Der erste Stock beherbergt die Überäume, in denen teilweise gute Blüthnerflügel stehen, die Schülerbibliothek, die Alumnatsbibliothek, das Archiv, das Büro des Geschäftsführers, die Vorschulklasse für zukünftige Thomaner, das Arbeitszimmer der Krankenschwester und die Krankenstube, die auch Ehemaligen als Gästezimmer dient. Im zweiten Stock finden wir die Stuben und das Arbeitszimmer des diensthabenden Inspektors und im dritten Stock die Schlafräume und die sanitären Einrichtungen. Darüber ist der Boden. Im Keller befindet sich die große Apparatur der Fernheizung, eine Unterbringungsmöglichkeit für Fahrräder und Schuhe, darüber hinaus gibt es einige kleine Überäume, das Eisenbahnzimmer, in dem eine elektrische Eisenbahn aufgebaut ist und ein Notenmagazin. Schuhe spielen eine gewisse Rolle. So soll in dem Gebäude möglichst nur mit Hausschuhen herumgelaufen werden, um den guten Parkettfußboden zu schonen, zur Konzerttracht gehören Lackschuhe.

„Der Kantor des Thomaschores wird wie der Rektor und die Inspektoren vom Rat der Stadt Leipzig angestellt und nimmt in Beziehung zum Thomanerchor die Stellung unmittelbar nach dem Rektor ein. Er trägt die volle Verantwortung für die musikalische Leistung des Chores und ist deshalb in rein musikalischen Fragen maßgebend. Bei der Aufnahmeprüfung steht ihm das entscheidende Urteil über musikalische Eignung der Schüler zu. Doch kann ein Schüler nur dann in das Alumnat aufgenommen werden, wenn Rektor und Lehrerkollegium auf Grund einer wissenschaftlichen Prüfung zustimmen. Der Kantor hat wöchentlich 5 Singstunden (Proben) abzuhalten.“

Seit der Wende ist der Rektor der Thomasschule Landesbeamter, der Thomaskantor hingegen Angestellter der Stadt Leipzig. Seine Verantwortlichkeit dem Chor gegenüber ist umfangreicher als oben benannt bzw. hängen das körperliche Wohlbefinden der Schüler und die Qualität des Chores eng miteinander zusammen. So ist es notwendig, dass die Sänger besonders bei Radio- oder CD-Aufnahmen gut ausgeschlafen sind. Um jeden Freitag in der Motette, jeden Sonnabend in der Kantate und sonntags im Gottesdienst zu singen, muss unter der Woche wesentlich mehr als fünf Stunden geprobt werden. Das heißt, dass der Thomaskantor sehr an einem guten Nachtschlaf oder einer zusätzlichen Mittagsstunde interessiert ist und dann auch in den Tagesablauf der Schüler eingreift. Auch muss er sich auf schon vorhandene Disziplin verlassen können. So lesen wir in einem Gutachten aus dem sächsischen Hauptstaatsarchiv vom 9. Januar 1875, dass das Alumnat „nur im Interesse der Abhaltung des Gottesdienstes, nicht aus pädagogischen Gründen oder mit Rücksicht auf eine sichere und erfolgreiche Handhabung der Schuldisziplin vom Thomaskloster gegründet worden ist“ (2). Auch heute noch trifft es nach Aussagen des Alumnatsleiters und des Thomaskantors zu, dass die im Alumnat angewandte Pädagogik im Dienst des reibungslosen Funktionierens des Chores steht. So ist auch zu verstehen, dass nur Schüler, die in der Schule keine großen Schwierigkeiten haben, aufgenommen werden können, so dass der musikalischen Prüfung eine allgemeine Schultauglichkeitsprüfung auch jetzt vorausgeht.

„Die Inspektoren sind jüngere, unverheiratete Lehrer der Thomasschule, die sich wochenweise im Dienst abwechseln. Ihre Amtswohnungen von je zwei Zimmern liegen zwischen den Stuben der Alumnen im 2. Stock des Alumnates. Für den diensthabenden Inspektor ist ferner ein eigenes Schlafzimmer in dem gemeinsamen Schlafsaal der Schülerschaft eingebaut. Jeder Inspektor hat 20 Alumnen in seiner besonderen Obhut. Er ist ihr Berater in allen persönlichen Angelegenheiten, der Verwalter ihrer Einkünfte und des Taschengeldes der jüngeren; er kümmert sich um die Leistungen in der Schule. Der Verkehr zwischen Inspektoren und Alumnen ist in keiner Weise dem militärischen Dienstverhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen nachgebildet, sondern trägt einen familiären Charakter.“

Die jetzigen Inspektoren können verheiratet sein und wohnen auch nicht mehr im Alumnat. Ihre ehemaligen Wohnungen sind Stuben für die Alumnen, immerhin hat sich ja die Anzahl der Thomaner seit 1920 um 36 vermehrt. Die Inspektoren sind nach wie vor Lehrer an der Thomasschule, also gleichzeitig Lehrer und Erzieher. Ausgebildet sind sie als Lehrer. Je ein Inspektor wohnt eine Woche im Alumnat, versieht aber gleichzeitig seinen Schuldienst. Natürlich hat er nicht die volle Unterrichtsstundenzahl. Er benutzt im dritten Stock, wo die Schüler ihre Schlafräume haben, das Inspektorenschlafzimmer und im zweiten Stock, wo die Schüler ihre Stuben, d.h. ihre Arbeitszimmer haben, das Inspektorenzimmer, einen sehr gemütlich eingerichteten Raum.
Nach dem Schulunterricht und dem Mittagessen ist von 2-3 Uhr strenge Arbeitszeit, dann werden Schularbeiten gemacht, bei denen der Inspektor und andere eigens dafür ausgewählte Lehrer der Thomasschule die Schüler betreuen. Nach dem Abendbrot ist dann noch einmal Schularbeitenzeit, in der sich dann nur noch der jeweilige Inspektor um etwaige Problemfälle kümmert. In der dazwischen liegenden Probenzeit findet auch der Instrumentalunterricht und die Einzelstimmbildung statt. Auch hier organisiert der Inspektor mit Hilfe der den einzelnen Instrumentallehrern zugeordneten Famuli, also älteren Schülern, den reibungslosen Ablauf. Das Taschengeld verwalten die Inspektoren nach wie vor, was sowohl Kontakt wie Kontrolle möglich macht.
Die Mahlzeiten nimmt er selbstverständlich mit den Schülern zusammen ein, auch begleitet er, oder wenn es notwendig ist, alle drei Inspektoren, den Chor auf der Reise. Mit etwas Phantasie wird sich jeder vorstellen können, was so ein Inspektor während seines Wochendienstes leisten muss.

„Die Schülerschaft gliedert sich ziemlich scharf in zwei Abteilungen: Die ‚Unteren‘ (von Sexta bis Untersekunda) und die ‚Oberen‘, (von Obersekunda bis Oberprima). In dem einheitlichen Zubettgehen jeder der beiden Abteilungen ist diese Gliederung am sichtbarsten. Jeder einer höheren Klasse Angehörige hat über den niederen ein gewisses Aufsichtsrecht, aber nur die Primaner sind im Besitz einer Strafgewalt. Sie sind berechtigt, für Verstöße gegen die Hausordnung und die Disziplin, namentlich die im Chore, Pensa zu erteilen, die in bestimmten Stunden der Freizeit angefertigt oder gelernt werden müssen. Die Bestraften sind in ein Pensumbuch einzutragen, das dem diensthabenden Inspektor vorgelegt wird. Trotz der Strafgewalt der Primaner ist ihr Umgang mit den Unteren häufig so kameradschaftlich, dass sie sich häufig sogar mit recht viel Jüngeren duzen.“

Diese Einteilung in Obere und Untere besteht auch heute noch. Die Oberprima fehlt allerdings, weil in den neuen Bundesländern das Abitur nach der 12. Klasse abgelegt wird. Das Recht zu strafen ist nach wie vor vorhanden. Die strafwürdigen Taten sind in der Hausordnung festgelegt, die beim jährlichen Coetus, das ist die Versammlung der Alumnen, Inspektoren und des Thomaskantors verlesen, und von jedem Schüler unterschrieben wird. Die Strafen haben sich im Lauf dieser jahrhundertelangen Einrichtung zwar verändert, sind aber dennoch eine wirkungsvolle Maßnahme, um die Selbstverwaltung innerhalb der Schülerschaft zu garantieren.
Alumnatsvorschriften für die Thomaner aus der erweiterten Schulordnung von 1723 (3): „Würde jemand ohne Bewilligung des Praeceptors, ehe der Gottesdienst geendigt, sich aus der Kirche hinausschleichen ohne erhebliche Ursachen, zumal an Sonn- und Festtagen, gar ausbleiben, der soll jedesmal, nach befundenen Umständen, mit der Rute, dem Karzer oder sonst ernstlich bestraft werden“. Auch Geldstrafen wurden verhängt, z.B. für Sextaner: „Wer den Schlüssel stecken läßt oder verliert, zahlt 4 Groschen, wer die Tür offen läßt, wenn er als letzter aus dem Zimmer geht, zahlt 2 Gr., wer sich überessen hat (vomitat), zahlt 2 Gr., wer flucht oder laut und ungehörig spricht, zahlt 6 Pfg., wer zu spät aufsteht und das Gebet versäumt, zahlt 6 Pfg.“
Die Vergehen sind mehr oder weniger geblieben, die Strafen haben sich geändert, nun muss geputzt oder auch mal ein Aufsatz geschrieben werden. Das Buch, in das die Pensa oder Strafstunden eingetragen wird, existiert noch, darüber hinaus werden die Pensa bei den Mahlzeiten bekannt gegeben. (Sowohl die Strafbücher wie die sich in der Zeit wandelnden Hausordnungen sind als historische Quellen von großer Bedeutung. Leider ist es mir nicht gelungen, einen Blick darauf zu werfen. Sie scheinen im Archiv des Alumnates zu sein, das für mich nicht zugänglich war.) Da hört man schon mal den Seufzer eines Unteren, die Oberen sind im Stress, sie verteilen so viele Strafstunden. Die letzte Liberalisierung auf diesem Gebiet hat nach der Wende stattgefunden. Bekam man vorher für zwei Striche, sprich Vergehen ein Pensum, so bekommt man nun erst eines für vier Striche.
Dass der Verkehr zwischen Oberen und Unteren freundschaftlich ist, ist sicherlich richtig, und die Unteren wissen sich ihre Freiräume zu schaffen.

„Die Primaner bilden zusammen den Primanerverein. Am Sonnabend versammeln sie sich abends in einer der Stuben, singen nach dem Regensburger Liederbuch und besprechen ihre Angelegenheiten. Regelmäßig erscheinen an diesen Abenden ehemalige Alumnen in alter Anhänglichkeit.“

Die Beschreibung dieser Idylle entlockte einigen Oberen, denen ich den Text zu lesen gegeben hatte, ein gewisses Schmunzeln. Doch ist die Anhänglichkeit alter Alumnen auch jetzt noch zu beobachten, und wenn ein Ständchen gebracht wird, so sind es Mendelssohns „Weite Höhen“ oder ein Song der Comedian Harmonists, die für solche „weltlichen“ Anlässe eingeübt werden.

„Die Primaner werden ferner zur Verwaltung der Alumnatsgeschäfte herangezogen. Sie stellen einen allwöchentlich wechselnden Beamten, den Wochenpräfekten, und sechs ständige: den Domesticus für häusliche Angelegenheiten, den Bibliothekar, den Rektorfamulus, durch dessen Hände z.B. alle Gelder gehen, die von der Stadt an den Rektor gezahlt werden, den Kantorfamulus, der u.a. die Redaktion und den Verkauf der Motettenzettel (Programme) zu leiten hat, und die vier musikalischen Präfekten. Die ständigen Ämter sind besoldet.“

Den Rektorfamulus gibt es nicht mehr und statt der vier sind es nur noch drei Präfekten. Der Wochenpräfekt hat die Aufgabe, das Ins-Bett-gehen und das Aufstehen zu organisieren. In den Schlafstuben schlafen bis zu zehn Schüler, die sich aus den Klassen vier bis zehn zusammensetzen. Die Oberen haben eigene Schlafräume. Nach einem genauen Zeitplan wird sich abends gewaschen und dann ins Bett gegangen. Der Waschsaal liegt im selben Stockwerk wie die Schlafräume. Zuerst die Viertklässler um 20.20 Uhr, danach alle zwanzig Minuten die folgende Altersgruppe. (Übrigens gibt es warmes Wasser.) So liegen die Jüngeren schon im Bett und schlafen oder sollen schlafen, wenn die Älteren kommen. Die Älteren gehen gegen 22.30 Uhr ins Bett. In den Schlafzimmern im dritten Stock stehen nur die Betten. Ausziehen muss man sich im zweiten Stock in der Stube, wo auch die Schränke stehen. Von der Stube zum Waschsaal muss man mit dem Morgenrock bekleidet, den man morgens beim Aufstehen auch wieder anzieht, gehen. Es darf im Bett weder gelesen noch geschwatzt werden. Auch die Oberen dürfen im Bett nicht lesen.
Der Domesticus teilt die Zusammensetzung der Schlafräume, wie die der Arbeitstuben, die eine andere ist als die der Schlafstuben, ein. Jedes Jahr wird alles aufs Neue anders geregelt. Außerdem inspiziert er die Köten, das sind die Schränke, in denen jeder seine Kleider und seine persönlichen Sachen hat. Er überprüft, ob bei Konzertauftritten jeder proper ist.
Der Kantorfamulus ist für den reibungslosen Ablauf der Konzerte zuständig. Er veranlasst den Druck der Programme, organisiert den Instrumententransport, z.B. von der Empore in den Altarraum, und sorgt dafür, dass die richtigen Noten zur richtigen Zeit vorhanden sind. Auch kümmert er sich um die Bezahlung etwaiger Solisten.
Dazu stehen ihm als Hilfskräfte die sich im Stimmbruch befindlichen, die so genannten Dispensierten als Hilfskräfte zur Verfügung. Diese werden in der Zeit, in der sie nicht mitsingen können, zu vielen Diensten herangezogen. Sie verteilen die Noten in den Proben, radieren alte Eintragungen aus, machen Wege für den Kantorfamulus und bleiben so in die Aktivitäten des Chores integriert. Sie genießen allerdings auch ihre Freizeit.
Die drei Präfekten sind Assistenten des Kantors. Sie proben mit den Neuen und machen Stimmproben. Sonntags dirigiert einer von ihnen die Kirchenmusik im Gottesdienst. Der jetzige Thomaskantor war Präfekt unter seinem Vorgänger. Der jetzige Geschäftsführer war seinerzeit Rektorfamulus. In die Ämter gelangt man auf Vorschlag des momentanen Amtsinhabers und in Rücksprache mit dem Thomaskantor. Ein zukünftiger Präfekt muss gut Klavier spielen können. Darüber hinaus erhält er Dirigierunterricht vom Thomaskantor. Auch heutzutage werden die Beamten besoldet, der Domesticus etwa erhält 40 D-Mark im Monat. Die hierarchische Rangordnung kann man an der Höhe des Soldes ablesen, so bekommt z.B. der Bibliothekar, der die Schülerbibliothek verwaltet, weniger als der Domesticus. Die Schülerbibliothek ist allerdings so altmodisch ausgestattet, dass sich die meisten ihre Bücher von zu Hause mitbringen.

„Auch die Verteilung der Alumnen auf die 6 Stuben wird von den Primanern geregelt, und zwar durch Wahl nach einem bestimmten Modus. So werden je 10 Alumnen aus allen Jahrgängen zu einer Stubengemeinschaft vereinigt. Jeder Platz an den beiden Tischen hat seinen bestimten Rang und wird nach der Klassenzugehörigkeit vergeben. Der Schüler der niedrigsten in einer Stube vertretenen Klasse ist der Ultimus, der besondere Pflichten hat. Nach derselben Ordnung liegen die Schüler auch im Schlafsaal.“

Wie schon berichtet, nimmt der Domesticus die Verteilung in den Stuben vor. Auch sind seit kurzem nicht mehr zehn Schüler auf einer Stube, sondern nur noch fünf. Die Verteilung in den Schlafräumen ist eine andere als die in den Stuben. Die Funktion des Ultimus erinnert an die des Fuchses innerhalb einer Studentenvereinigung. Wurde in früheren Zeiten der krasseste Pennalismus dazu benutzt, die Ultimi zu quälen oder zu niedrigen Diensten heranzuziehen, wobei Schuhe putzen oder Kaffee holen für den „Leibburschen“ noch sehr harmlos war, so demonstriert diese jetzt immer noch vorhandene Einrichtung eigentlich nur noch das hierarchische Gefälle unter den Kohorten. Die Stimm-Ultimi müssen die Noten verteilen und einsammeln.

„Als Chor sind die Alumnen in folgender Weise organisiert. Es ist innerhalb der Gesangsleistung der Schüler eine Chorordnung aufgestellt. Die drei Besten jeder Stimme bilden die 12 Ersten, deren gesang öfter bei Trauungen, Begräbnissen u.s.w. gewünscht wird. Doch kann die Genehmigung nur ausnahmsweise erteilt werden. In den Proben werden die Schüler so verteilt, dass ein geübter Sänger mit einem oder zwei weniger geübten an einem Pult steht.“

Statt der 12 Ersten gibt es jetzt 16, danach kommen die 30 Ersten und danach die 40 Ersten. Das Singen bei Trauungen usw. spielt kaum noch eine Rolle, aber natürlich kommen unterschiedliche Gruppierungen oder Soloauftritte vor, die dann schon im Voraus feststehen. Die Pultordnung, durch die ein leistungsfähiger neben einem nicht so guten Sänger steht, nimmt der Domesticus vor. Innerhalb der Alumnatshierarchie spielt die Zugehörigkeit zu den 16 Ersten keine Rolle. Es müssen zwangsläufig Soprane und Alte, die zu den Unteren gehören, Erste sein. Meistens sind die Amtsinhaber wie die Präfekten, der Kantorfamulus oder der Domesticus auch Erste.

„Die Proben werden von einem der Präfekten, die sich wöchentlich abwechseln, unter der Leitung des Kantors abgehalten. Der Präfekt dirigiert dann die von ihm einstudierte Motette in der Thomaskirche. Zur besonderen Einübung hat jeder Präfekt dauernd einen Teil der Kinderstimmen unter sich.“

Hier hat eine große Veränderung stattgefunden. Die Präfekten dirigieren zwar noch die Kirchenmusik im Gottesdienst, aber sonst leistet die eigentliche Probenarbeit der Kantor, unter Mithilfe der Präfekten bei Einzelproben oder Proben mit den Neuen, die anfangs erst sehr eingeschränkt mitsingen dürfen. Die Proben werden meistens vom Klavier aus geleitet. Werden Stücke für Chor und Orchester geprobt, übernimmt ein Präfekt die Rolle des Korrepetitors. Nach eigenen Aussagen der jetzigen Präfekten ist die wichtigste Voraussetzung, um Präfekt zu sein, eine Führungspersönlichkeit zu haben.

„Der musikalische Dienst des Chores ist ziemlich umfangreich. Probe ist täglich eine Stunde außer Freitag und Sonntag. Am Freitagabend und Sonnabend Mittag findet in der Thomaskirche die altberühmte Motette statt. Sonntag vormittags ist abwechselnd in der Thomas- und Nikolaikirche Kirchenmusik, die der Kantor leitet. Deshalb müssen alle Alumnen auch an den Kirchenfesten, die in die Schulferien fallen, in Leipzig sein. Die Männer wirken ferner pflichtgemäß im Gewandhauschor, freiwillig im Bachchor mit.“

Statt einer Stunde Probe täglich sind es heute zwei oder drei, donnerstags ist keine Probe, dafür freitags vor der Motette, sonnabends vor der Kantate und sonntags vor der Kirchenmusik. In der Kantate wird dasselbe wie in der Motette gesungen, an das Ende wird dann noch die Bachkantate gehängt. Sonntags singt allerdings nur ein Drittel des Chores. Die anderen gehen, falls sie in Leipzig wohnen, nach der Kantate am Sonnabend nach Hause. Der Dienst in der Nikolaikirche ist entfallen. Der Donnerstag wird als Ausweichtermin häufig in Anspruch genommen. An großen Fest- und Feiertagen müssen die Thomaner wie eh und je in Leipzig bleiben, unabhängig davon, ob Ferien sind oder nicht. Besonders Weihnachten spielt dabei eine große Rolle, muss doch noch am ersten Weihnachtstag im Gottesdienst gesungen werden. Erst danach können sie nach Hause fahren. So verleben die Sänger den Heiligen Abend im Alumnat. In Erinnerung an die alten Kurrendezeiten ziehen sie um Heilig Mitternacht durch die Straßen und singen Weihnachtslieder.
Um zeitlich überhaupt zurecht zu kommen, muss manchmal die Schule ausfallen, z.B. bei CD-Aufnahmen. Die Dispensierten und die Neuen, die noch nicht mitsingen dürfen, nehmen am ersten Tag an der Aufnahme teil, indem sie, mit einer Partitur bewaffnet, dem Ablauf folgen. Die nächsten Tage gehen sie wieder in die Schule.
So wurden kürzlich alle Bachmotetten aufgenommen, wozu der Chor fünfeinhalb Tage lang täglich sechs Stunden zum Aufnehmen gebraucht hat. Trotzdem wurde die wöchentliche Motette und Kantate gesungen, und auch der Gottesdienst mit Kirchenmusik versehen. Zusammengezählt wurde in dieser Woche mehr als dreißig Stunden gesungen und geprobt. Ähnlich dicht hat man sich den Ablauf einer Woche vorzustellen, wenn Konzerte gegeben oder die großen Passionen gesungen werden.

„Alle Alumnen müssen ein Instrument spielen lernen; es stehen ihnen mehrere Flügel und Klaviere, ein Harmonium und die Schulorgel zur Verfügung. Alle Unteren haben auf Kosten des Alumnats Klavierunterricht.“

Das Harmonium ist verschwunden. Hinzuzufügen ist, dass neben dem Klavierunterricht auch noch jeder gewünschte andere Instrumentalunterricht erteilt wird. Die Oberen sind vom Instrumentalunterricht befreit, dürfen aber, wenn sie wollen, weiter Unterricht nehmen. Der Unterricht wird von Musiklehrern, die meistens auch an der Musikhochschule unterrichten, erteilt. Zu dem Instrumentalunterricht kommt noch der Gesangsunterricht bzw. die Stimmbildung. Weil die Alumnen einen sehr vollen Tagesablauf haben, finden sie wenig Zeit zum Üben. Deshalb sind ihre Leistungen auf den Instrumenten eher mittelmäßig zu nennen. Ein Musikstudium kommt für einen Thomaner eigentlich nicht in Frage, weil ihm die Zeit fehlt, sich auf die Aufnahmeprüfung an einer Musikhochschule vorzubereiten. Die Präfekten hingegen sind für ein Kirchenmusikstudium bestens vorbereitet. Die Kosten des Musikunterrichtes trägt die Stadt Leipzig.

„In der Regel singt der Chor nur in Leipzig. Bisweilen jedoch unternimmt der Kantor mit ihm Konzertreisen, auf denen auch weltliche Konzerte gegeben werden, ebenso wie auf den ‚Spritzen‘, kleineren Konzertreisen in den Ferien, die unter der musikalischen Leitung der ersten Präfekten stattfinden. Die auswärtigen Veranstalter dieser Konzerte müssen für die Fahrt, Unterkunft in Familien, Verpflegung, Haftpflicht u.a. aufkommen, erhalten dafür aber die Einnahmen aus dem Konzert.“

Der Konzertbetrieb des Thomaschores ist mit dem oben beschriebenen nicht mehr zu vergleichen. Es werden große Konzertreisen bis hin nach Japan oder Amerika unternommen, deren Management dem Geschäftsführer der Thomaner obliegt. Es kommen auch noch kleinere Chorfahrten vor, – allerdings nicht mehr unter der Leitung eines Präfekten –, bei denen die Thomaner auch einmal in Privatquartieren untergebracht werden, was übrigens nicht sehr beliebt ist. Den Gewinn aus den Konzerten kann der Chor behalten. Die Dirigierfähigkeiten der Präfekten kann man aber gar nicht hoch genug veranschlagen, so ist einmal ein Präfekt für einen erkrankten Thomaskantor eingesprungen, um an seiner Stelle eine Bachsche Johannispassion zu leiten.

„Zum Schluß noch ein paar Worte über die Leistung des Alumnates für die Schüler und seine Unterhaltung. Die Alumnen erhalten Wohnung, volle Verpflegung, ärztliche Behandlung und unentgeltlich Schulunterricht, außerdem Monatsgeld von 2-3 Mark je nach Alter. Das Alumnat beruht nicht auf einer alten Stiftung, sondern die Kosten werden in der Hauptsache aus dem Stadtsäckel bestritten. Soweit Stiftungen vorhanden sind, werden die Zinsen an die Alumnen als Legate verteilt und ebenso wie die Monatsgelder auf ihr Sparkassenbuch gutgeschrieben oder zur Ausgestaltung des Weihnachtsfestes und anderer Festtage verwendet.“

Diese Beschreibung der Leistungen des Alumnates trifft im großen Ganzen zu. Zur ärztlichen Versorgung gehört auch die Kontrolle, ob einer der Sänger im Stimmbruch ist oder nicht. Wird der Stimmbruch festgestellt, muss der Thomaner mit dem Singen aufhören. Meistens ist auf dem Weg zum Stimmbruch aus einem Sopran ein Alt geworden. In der Zeit des Stimmbruches wird alle zwei Monate kontrolliert, wie weit dieser fortgeschritten ist. Auf dem Kantor ruht eine große Verantwortung, einen Knabensolisten, den er eigentlich nicht entbehren kann, trotzdem in die „Pause“ zu schicken. Einmal wöchentlich kommt eine Ärztin ins Haus. Die kleineren Sachen, wie Fußballblessuren, versorgt die Krankenschwester.
Es ist mir nicht gelungen, genaue Auskünfte über die Finanzen des Alumnates zu erhalten. Das kann mehrere Ursachen haben. Nach der Wende hat sich alles verändert. Wurden zu DDR-Zeiten die Konzertreisen vollständig von einer staatlichen Einrichtung organisiert, so ist dieser Vorgang „privatisiert“ worden, und es wurde zu diesem Zwecke ein Geschäftsführer eingestellt. Die Vermögensverhältnisse der Thomasschule und des Alumnates scheinen vom Rat der Stadt Leipzig anders als von den Betroffenen gesehen zu werden. Es findet eine Art Vergütung der Arbeit des Chores statt, ich weiß aber nicht in welcher Höhe. Auch das Weihnachtsgeld wird ausgezahlt und tatsächlich für die Ausgestaltung des Weihnachtsfestes benutzt. Oben können wir lesen, dass das Alumnat nicht aus einer Stiftung, sondern aus der Stadtkasse finanziert wird. Andererseits werden Stiftungen erwähnt, die dann wohl privater Natur waren. Das Kulturamt der Stadt Leipzig ist gerade dabei, sich – wie übrigens vorher sowohl die Kommunisten als auch die Nationalsozialisten – Klarheit über die historisch gewachsenen Finanzverhältnisse zu verschaffen. Diese wurden dann auch neben anderem als Machtinstrumente benutzt, um zu versuchen, den Chor in eine bestimmte Richtung, sei es zur HJ oder FDJ zu drängen. Dies ist bekanntlich, dank u.a. der Kompliziertheit dieser Materie nicht wie gewünscht, gelungen.

„Die persönlichen und sachlichen Ausgaben wurden für den Haushaltsplan 1919 auf rund 80.000 Mark (ohne Gehalt für den Rektor und die Inspektoren) veranschlagt, doch ist diese Summe vermutlich weit überschritten worden. Aus der Motettenkasse, dem Erlös für die Programme, werden die Kosten für die Weiterbildung der Alumnen im Klavierspiel und Gesang durch Hilfskräfte bestritten. Durch die Unterhaltung des Alumnats erwirbt sich die Stadt Leipzig das große Verdienst, eine alte musikalische Kultur lebendig zu erhalten, und ermöglicht zugleich schon seit Jahrhunderten den Aufstieg manches Begabten.“

Die laufenden Kosten für das Alumnat betragen im Moment 1,6 Millionen D-Mark, dazu kommt ein Sachetat von 80.000 D-Mark. Außerdem entstehen Extrakosten durch die Thomanerklassen innerhalb der Thomasschule.
In den nächsten Jahren werden sicherlich Baukosten für das 115 Jahre alte Gebäude anfallen. Die Duschen im Keller z.B. sind in einem miserablen Zustand.

 

Schlussbetrachtung

Die Stadt Leipzig hat sich entschlossen, Johann Sebastian Bach als Symbolfigur für sich zu wählen. Vielleicht auch, weil ihr durch den Unterhalt des Alumnats doch erhebliche Kosten entstehen, die unter der Flagge von PR-Maßnahmen segelnd, auch innerhalb eines kapitalistischen Systems auf Resonanz stoßen könnten. Ihr stehen jedenfalls nicht wenige, bedeutende Menschen zur Auswahl, so u.a. Leibniz, Gottsched, Mendelssohn oder Heisenberg. Bach scheint eine für jedermann geeignete Kultfigur zu sein und die Thomaner sind die lebendige Erinnerung an diesen Komponisten, dem jedes politische System seit seiner Wiederbelebung durch Forkel und Mendessohn seine Reverenz erwiesen hat. Auch sind und waren die Thomaner auf ihren Konzertreisen die Botschafter des „guten“ Deutschland. Schon nach dem ersten Weltkrieg, als Thomaskantor Straube mit dem Chor zum ersten Mal ins Ausland fuhr, äußerte sich die internationale Presse in diesem Sinne (4). Nach dem zweiten Weltkrieg wurde dann anfangs die das geteilte Deutschland verbindende Funktion des Chores hervorgehoben. Später klang es dann anders: „Sie (die Thomaner) erfüllen auch eine wichtige politische Mission. Nach zwei verheerenden Weltkriegen, die von deutschem Boden ausgegangen waren, übernahmen sie es, Botschafter eines besseren Deutschlands zu sein, machten sie der Weltöffentlichkeit bewußt, daß die humanistischen Traditionen und Kräfte des deutschen Volkes unzerstört geblieben sind. Seit 1949 trugen sie durch ihre Leistung wesentlich dazu bei, daß die Deutsche Demokratische Republik in vielen Staaten der Welt Achtung und Anerkennung erringen konnte“ (5). Betrachtet man die eindrucksvoll große Menge von ausländischen Touristen, die sich um das Bachdenkmal schart, und dann zu Tausenden in die Kantate oder Motette in der Thomaskirche geht, so erfüllt der Thomanerchor seine Aufgabe noch immer mit gutem Erfolg.

Probleme gibt es mit dem Nachwuchs. Weil der Stimmbruch immer früher einsetzt, müssen immer jüngere Schüler aufgenommen werden. So gibt es für die Knaben aus Leipzig eine Art Vorschule zum Thomanerchor, in der schon Drittklässler auf die Chorarbeit vorbereitet werden. Wenn man diese Klasse, für die man schon eine kleine Voraufnahmeprüfung machen muss, mit Erfolg absolviert hat und die eigentliche Aufnahmeprüfung bestanden hat, kann oder darf man Thomaner werden. Eltern von außerhalb, die gerne ihre Söhne im Thomanerchor sähen, wird empfohlen, diese musikalische Vorerziehung zu Hause durchzuführen.

Noch größer als der Bekanntheitsgrad des Thomanerchores ist der des Thomaskantorenamtes. Ist doch der amtierende Thomaskantor ein direkter Nachfolger Johann Sebastian Bachs. Noch 1920 wurde der Thomaskantor, wie wir oben nachlesen können, an zweiter Stelle genannt. Erst mit Karl Straube gelangte diese Stelle an den Ort ihrer jetzigen Bedeutung. Das hängt mit der Berühmtheit der schola thomana zusammen, die im 13. Jahrhundert gegründet worden ist. Viele Rektoren dieser Schule waren bekannte Wissenschaftler, die ihr Rektorenamt oft zugunsten einer Professur an der Leipziger Universität aufgaben. Die vielseitige Persönlichkeit Straubes, eines umfassend gebildeten Autodidakten, entwickelte das Ansehen und das Können des Chores zu dem, wie wir es heute vorfinden. Die Nationalsozialisten wie die Kommunisten versuchten, die Thomasschule wie den Thomanerchor in ihre Dienste zu bringen. Dies führte zu einer Beeinträchtigung der Qualität der Schule. 1972 wurde sie eine der erweiterten Oberschulen in der DDR und verlor damit jeden Anspruch, sich eine Eliteschule nennen zu können. Sie zehrte von ihrem einstigen Ruhm. Dieses Schicksal teilte sie mit allen in der damaligen DDR vorhandenen Traditionsschulen.
Der Chor behielt sein Ansehen und seine Fähigkeiten, auch wenn er mehrere Krisen überstehen musste. Die größte verursachte das hastige Ausscheiden des Nachfolgers Günther Ramins, Kurt Thomas. Ihm folgten zwei im Umgang mit dem DDR-Regime geübte Thomaskantoren, so dass der Chor sich in relativer Ruhe seinen Aufgaben widmen konnte.
Die Zugehörigkeit zum Thomanerchor war in DDR-Zeiten mit vielen Privilegien verbunden. So konnten Thomaner jeden Studiengang wählen, waren in ihrer Militärzeit in einem Spezialbataillon in Weißenfels untergebracht, von wo aus sie, wenn nötig, dem Chor aushelfen konnten, und nicht zuletzt waren sie Reisekader. Letzteres bedeutete für die Thomaskantoren, dass sie vor jeder Reise ins westliche Ausland Kontakt mit dem Ministerium für Staatssicherheit hatten. Sowohl Straube, der 1933 in die NSDAP eingetreten war, um den Chor davor zu bewahren, ein Teil der HJ zu werden, als auch später Ramin, hatten mit den Nazis kooperiert, wobei sie diese Kooperation mit der ethischen Wichtigkeit eines funktionierenden Thomanerchores legitimierten. Ähnlich erging es ihren Nachfolgern. Doch erst den letzten beißen die Hunde, in diesem Fall Hans Joachim Rotzsch. Er musste wegen Stasikontakten gehen. Hätte die Wende nach seiner Pensionierung stattgefunden, so hätte dieses Schicksal den dann amtierenden Thomaskantor ereilt. Auch der Rektor der Thomasschule musste gehen. Sein Nachfolger, ein Naturwissenschaftler, der seit den fünfziger Jahren Mitglied der Neuen Bachgesellschaft ist, versucht die Schule wieder auf ihr altes Niveau zu bringen.
Sieht man sich die Organisation des Thomanerchores an, so kann man gut nachvollziehen, was es für den Chor bedeutet haben muss, seinen „Vater“ oder besser noch, sein Überich zu verlieren bzw. demontiert zu sehen. Der jetzige Thomaskantor war Präfekt unter Rotzsch. Er hatte also bei ihm Dirigierunterricht und wurde von ihm gefördert. Auch ist es kaum möglich, in dieses höchste Amt innerhalb des Chores aufzusteigen, ohne in vorbildlicher Weise mit der Hausordnung umzugehen. Georg Christoph Biller ist also Nachfolger eines entthronten Vaters einerseits und der Hüter einer bewusst übernommenen Tradition andererseits. Sicher keine leichte Aufgabe. Einen ähnlichen Spagat muss er auf dem Gebiet der Aufführungspraxis leisten. Auf der einen Seite hat er den Wunsch, historische Aufführungspraktiken, die von DDR-Kritikern puristisch und ausgetrocknet genannt worden waren, bei den Thomanern einzuführen und auszuprobieren, auf der anderen Seite gehört die instrumentale Begleitung der Thomaner zu den Diensten des städtischen Gewandhausorchesters, welches weder die Instrumente noch die Motivation hat, um zu experimentieren. So werden die wöchentlich stattfindenden Bachkantaten vom Gewandhausorchesters begleitet, was den Thomanerchor nichts kostet, und CD-Aufnahmen oder andere repräsentative Veranstaltungen mit Instrumentalisten, die erfahren sind im Umgang mit historischen Instumenten. Man muss auch bedenken, dass G. C. Biller bei Kurt Masur, dem Chef des Gewandhausorchesters, Dirigierunterricht gehabt hat, also eher eine musikalische Sozialisation im traditionellen Stil erfahren hat.
Dass Biller diesen schwierigen Aufgaben mit guter Zuversicht entgegen sieht, liegt, glaube ich, an seiner großen Liebe zu dem Amt des Thomaskantorates. Für ihn ist es das „höchste kirchenmusikalische Amt“, das nun wieder seiner eigentlichen Bestimmung, nämlich der Bachpflege und der Ehre Gottes zu dienen, zuzuführen sei, und das unabhängig von politischen Einflüssen. Als ehemaliger Thomaner kennt er seine „Pappenheimer“ durch und durch und weiß, wie viel oder wenig er ihnen zumuten kann. Er kann die Stärke der Motivation, sich „satt singen“ zu dürfen, auf Grund eigener Erfahrungen abschätzen und weiß auf die richtige Weise an das stolze Gefühl, ein Weltelitechor zu sein, zu appellieren.

Soweit ich das überblicken kann, gibt es keine Literatur zur Pädagogik, die in Chorknabeninternaten dieser Art ausgeübt wird. Am Anfang meines Berichtes habe ich folgendes Zitat unkommentiert gelassen:

„Durch das Zusammenleben im Internat, die Vereinigung von humanistischer und musikalischer Bildung und durch die lange Überlieferung wird die Kultur erzeugt, auf welcher der Ruhm des Chores beruht“.

Für Straube bildeten seine im Rundfunk mit den Thomanern aufgeführten Bachkantaten im Jahre 1932 einen „Mittelpunkt für jene Menschen, die den Nationalsozialismus als undeutsch verabscheuten. Diese sammelten sich um die hohen und reinen Klänge der deutschen Kunst des großen Thomaskantors, die solchen Zuhörern Kraft, Trost und Hoffnung für eine bessere Zukunft unseres Volkes schenkte“ (6). In seinem 1979 erschienenen Buch über den Thomanerchor schreibt der Musikwissenschaftler Wolfgang Hanke in der Einleitung: „Es wird seitdem in der DDR insbesondere in Leipzig – der Forderung eingedenk, die der erste Bach-Biograph Nikolaus Forkel, 1802 an die deutsche Nation erhob, sich Bachs wert zu erweisen – mit großem Ernst und Verantwortungsbewußtsein verwirklicht“. An anderer Stelle wird festgestellt, dass „Ordnung und Disziplin, rationelle Einteilung der kostbaren Zeit den Thomanern schon in den ersten Wochen ihres Internatsleben zur Selbstverständlichkeit werden. Frühzeitig lernen sie durch ein sinnvoll aufgebautes System von Ämtern und Pflichten, Verantwortung zu tragen für die Gemeinschaft zu denken und zu handeln. Vom ersten Tag an wird ihnen bewußt, was sozialistische Demokratie bedeutet, was es heißt, staatsbürgerliche Verpflichtungen wahrzunehmen.“ (7) Biller sagt in einem Interview, das 1994 in den „Leipziger Blättern“ veröffentlicht worden ist, über die Aufgabe des Chores: (Sie ist) „Die musikalische Verkündigung des Lobes Gottes, und das geschieht eben mit einem Knabenchor aus dem alten Gebot des Paulus heraus: ‚mulier taceat in ecclesia!‘ – Die Frau schweige in der Gemeinde!“ Wir sehen hier vier verschiedene Wertkategorien, einmal Humanismus und Bildung, dann „echtes“, nicht nationalsozialistisches Deutschtum. Weiter werden staatsbürgerliche Verpflichtungen in der sozialistischen Demokratie genannt und zum Schluss das Lob Gottes. Das Erstaunliche ist nun, dass all diese genannten Werte immer auf dieselbe Weise erreicht werden können. Durch das Singen von Bachscher Musik. Dies ist vielleicht auch der Grund dafür, dass die Stadt Leipzig sich dazu entschlossen hat, die doch nicht unbeträchtlichen Kosten, die die Einrichtung des Thomaschores und der Thomasschule verursachen, auf sich zu nehmen. Politische Systeme kommen und gehen, unser Bach bleibt unversehrt bestehen.

Ich möchte meinen Bericht mit einer Frage schließen. Betrachten wir einmal, welche Voraussetzungen nötig sind, um die Bachmotette „Singet dem Herrn“ aufzuführen. Es müssen sehr virtuose und schnelle Sechzehntelkoloraturen mit langen Noten zusammengebracht werden, innerhalb der zweichörigen Motette muss sehr alert reagiert werden, wenn ein Chor sich mit dem anderen abwechselt. Um sinnvolle Phrasierungen deutlich werden zu lassen, müssen die Noten konsistent bezeichnet sein und die Sänger stimmlich in der Lage, Akzente, Dynamik oder Agogik vermitteln zu können. Die geistige Konzeption und Leitung liegt beim Kantor, das heißt, der Chor muss den Anweisungen des Dirigenten wie ein Mann folgen können. Um dies zu erreichen, ist es da wirklich nötig, dass z.B. die Siebtklässler die Toiletten putzen müssen, oder dass man abends im Bett nicht lesen darf, dass man einen Strich bekommt, wenn man mit Schuhen statt mit Hausschuhen in den Probensaal kommt? Dass Präfekten oder andere Beamte nicht demokratisch gewählt, sondern ernannt werden? Dass es für die Kleinen keinen Kummerkasten gibt, dass ein Ombudsman fehlt? Oder soziologisch gesprochen, dass kollektive Identität und Geborgenheit innerhalb einer „konstitutionellen, absoluten Monarchie“ – so bezeichnete ein Thomaner sehr dezidiert die Organisation des Thomaschores – als Erziehungsziel seit Jahrhunderten unverändert und unreflektiert praktiziert wird?

 

(1) Der Bericht, auf den ich mich durchgängig beziehe und für den ich der Deutlichkeit wegen einen anderen Schrifttyp benutzt habe, stammt aus dem Sonderheft: „Der Thomanerchor zu Leipzig“, 1920, Der Kirchenchor. Der Verfasser ist ein Inspektor der Thomaner.

(2) Dieses Zitat stammt aus einem Aufsatz, den Martin Petzold in den „Leipziger Blättern“ 1994 geschrieben hat, in dem er seinerseits ein Gutachten zitiert, das das Landeskirchenamt 1953 in Auftrag gegeben hatte. Der Titel des Aufsatzes lautet: „Thomaner zwischen Stadt und Kirche“.

(3) Aus dem sehr interessanten Buch von Bernhard Knick: „St. Thomas zu Leipzig“, Wiesbaden 1963, S.151ff. Knick berichtet sowohl über den Thomanerchor als auch über die Thomasschule.

(4) Horst List: „Auf Konzertreise“. Ein Buch von den Reisen des Leipziger Thomanerchores, Berlin/Hamburg 1957. List war Inspektor bei den Thomanern und ist unter Ramin mit nach Südamerika gefahren.

(5)

(6) Marie Hübner, Karl Straube: „Zwischen Kirchenmusik und Kulturpolitik: Zu den Rundfunksendungen der Bach-Kantaten 1931-1937“, in: „Leipziger Beiträge zur Bachforschung“, 1994.

(7) Wolfgang Hanke: „Die Thomaner“, Berlin 1979, S.7.

 

Nachtrag:
Ein Gedanke, den ich 1996 noch nicht hatte ist der folgende:
Der Thomaschor und seine Leiter stehen in der Tradition einer sich dauernd verbessernden Pädagogik. Deshalb reagieren sie möglicherweise gereizt auf Angriffe von außen, denn sie sind ja ständig damit beschäftigt, Missstände zu beseitigen.

 

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